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Bild des Monats September 2015:

Blick unter den Boden: Die U-Bahn im Medium des Schnittbilds


«Unter seinen Füßen rauschte die Untergrundbahn. Ein verborgener Komet schälte sich eine heiße Bahn in der Erde. Wie unwahrscheinlich das war […].» (S. 275) In diesen 1919 notierten Worten des expressionistischen Dichters Oskar Loerke klingt an, woraus die allgemeine Faszination der frühen Moderne für das neue unterirdische Verkehrsmittel überwiegend zu erklären ist: aus der zunächst nur schwer erfassbaren, mitunter unheimlichen Sensation, auf einem (Stadt-)Boden zu stehen, der nicht mehr fest und in sich ruhend, sondern durch ein sich unaufhaltsam ausbreitendes, labyrinthisches Tunnel- und Gängenetz ausgehöhlt und dabei von einer kontinuierlichen, dem bloßen Auge sich entziehenden Bewegung ergriffen war.

Mit der U-Bahn hatte sich um die Jahrhundertwende ein Phänomen im städtischen Raum installiert, das, obschon in Kürze ein treibender Faktor desselben, in der Außenwahrnehmung eine weitgehend abstrakte Größe bleiben musste. In diesem Zusammenhang trug sie das ihrige zur modernen (Krisen-)Erfahrung einer zunehmend unüberblickbar und ungreifbar gewordenen urbanen Wirklichkeit bei. Gleichermaßen ergab sich aus der Diffusität und Obskurität ihrer infrastrukturellen Gegebenheiten ein nicht unwesentliches Darstellungs- bzw. Visualisierungsproblem: Wie konnte einer von außen her nahezu völlig unsichtbaren und überhaupt «negativen Architektur» (Warlamis, 1984, S. 18) ein ‹Gesicht› verliehen werden, durch welches ihre Einbettung in den sie umgebenden, größeren stadträumlichen Zusammenhang intelligibel und evident würde?

Am stärksten betroffen haben dürfte dieses Problem die Informations- und ‹Imagepolitik› der frühen Verkehrsbetriebe, denen viel daran liegen musste, das neue Verkehrsmittel so transparent und vertrauenserweckend wie nur möglich erscheinen zu lassen. Als besonders praktikabler Lösungsansatz drängte sich hier das Medium des technischen Schnittbildes auf, das seine erste breitenwirksame Anwendung in Georgius Agricolas Werk zum Bergbau von 1556 (De re metallica libri XII) fand. Seine Verfahrensweise bestand darin, bei einem dargestellten Objekt oder einer Szenerie Teile der Oberfläche wegzuschneiden, um dem Betrachter so partiell Einsicht in deren Innenleben zu ermöglichen.

In ebendieser Weise gewähren die hier ausgestellten Bilder Einblicke in die Räumlichkeiten dreier wichtiger und für die damaligen Verhältnisse überdurchschnittlich komplexer Berliner U-Bahnhöfe (Alexanderplatz, Gesundbrunnen, Hermannplatz). Um 1930 im Auftrag der Berliner Verkehrsbetriebe entstanden und seither unzählige Male nachgedruckt, dienten sie zur Illustration von ‹Unternehmenspublikationen›, die das Ziel verfolgten, die bauliche Entwicklung und Beschaffenheit des «physischen Körper[s]» der U-Bahn auch einer breiteren Öffentlichkeit einsichtig zu machen (Bousset, 1935, S. V).

Dabei offenbaren diese Ansichten, obschon sie grundsätzlich dem gleichen technischen Modus zur Sichtbarmachung des Unsichtbaren folgen, eine für dieses Bildgenre doch überraschende Variabilität der stilistischen Ausgestaltung; dies vor allem in Bezug auf ihre Belebung durch Details wie Menschenmengen und Fahrzeuge, Dampfemissionen oder realistische Gebäude- und Raumschattierungen. Eine solche Belebung ist nämlich mal schwächer, mal stärker ausgeprägt, was wiederum die so dargestellten Szenerien mal eher im Stil eines kühlen und abstrakten (Architektur-)Modells erscheinen lässt, mal eher in jenem einer kleinen Stadtvedute, in der sich das Unübersichtliche und Unruhige des Berliner Verkehrstreiben nicht gezähmt, sondern betont sieht.




Bildquelle:

Berliner Verkehrs-Betriebe (BVG) (Hg.): 50 Jahre Berliner U-Bahn, 1902 bis 1952, Berlin 1952, S. 36 [Bild 1], 34 [Bild 2] und 29 [Bild 3]. Bildlegenden: [1] «Der U-Bahnhof Alexanderplatz und die Bahnsteige zu den Linien A, D und E», [2] «U-Bahnhof Gesundbrunnen mit den Verbindungen zur Reichsbahn», [3] «U-Bahnhof Hermannplatz»

Literatur:

Bousset, Johannes: Die Berliner U-Bahn, Berlin 1935.

Loerke, Oskar: Die Puppe (1919), in: Martini, Fritz (Hg.): Prosa des Expressionismus, Stuttgart 1970, S. 272-281.

Warlamis, Efthymios: Die Herkunft der Architektur aus der Höhle, in: Daidalos. Architektur, Kunst, Kultur 12 (1984), S. 14-31.


Benedikt Tremp