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Galerie-Bild

Bild des Monats Februar 2016:
Flammarions Museen der »Fernphotographie«
Die 1906 in »Je sais tout« erschienene Darstellung der Marsbewohner von Henri Lanos rekurriert unmittelbar auf Camille Flammarions Roman »Uranie« (1889). Das Buch beschreibt eine utopische Marsgesellschaft, die nicht nur hinsichtlich moralischer Werte, Arbeits- und Erziehungsstandards, sondern auch im Hinblick auf ihre epistemische, medialtechnologische und kommunikatorische Veranlagung idealisiert wurde. Die Marsianer besitzen zwölf Sinne, psychometrische Fähigkeiten, unmittelbare Photographie als Weiterentwicklung des Buchdrucks sowie den geheimnisvollen »Apparat für Fernphotographie«, den Lanos in seiner Illustration so majestätisch dargestellt hat.

Auf dem Bild prallen prima facie zwei Welten aufeinander. Im Vordergrund sehen wir die nackten Körper beflügelter Marsmenschen, die die Leinwandprojektion des riesigen Apparats mit grossem Interesse beobachten. Die Welt, die jener Apparat mediatisiert, unterscheidet sich enorm von der Idylle des roten Planeten: Die Physiognomie der marsianischen Kreaturen und ihre engelische Nacktheit erwecken paradiesische Assoziationen, so als ob die Welt der Beobachter ein medial-technologisierter Himmel wäre. Auch die Atmosphäre der Musse kontrastiert mit der omnipräsenten Hektik der mediatisierten Welt. Die Bilder, die aus dem Reflektor emporsteigen, stellen nämlich die städtische Landschaft unserer Erde dar. Der »Apparat für Fernphotographie« nimmt »beständig das Bild unserer Welt« auf und hält »es getreu« fest. Auf dem Mars hat man auch ein »ungeheures«, »besonders den Planeten des Sonnensystems gewidmet[es]« Museum eingerichtet, in dem die Aufnahmen aller Ereignisse in chronologischer Reihenfolge abgespeichert werden. Die ganze Geschichte der Erde kann somit nach Belieben zurückprojiziert werden: »Frankreich zur Zeit Karls des Großen« oder »Griechenland zur Zeit Alexanders«.

Camille Flammarions Idee vom Museum der Fernphotographie greift auf die Jahrhunderte lange literarische Tradition auf, die den kosmischen Raum als Speicherplatte des (terrestrischen / anthropischen) Wissens begreift. Das neoplatonisch-theologische Modell der Wissensräume löst Flammarion zugunsten eines technologisierten Fortschrittsmodells ab. Nicht mehr teleologische Zuordnung eines Wissenspotentials zu einem kosmischen Raum konstatiert die Wissensordnung des Weltalls, sondern sein (technologischer) Fortschritt.

Die Fortschrittlichkeit des roten Planeten äussert sich somit nicht nur in der Moralisierung der dortigen Kreaturen, sondern auch in der Technologisierung ihrer Zivilisation. Mit der Erfindung des »Apparats für Fernphotographie« verwandelt sich der Mars in ein interplanetarisches Informationszentrum, in das das gesamte Wissen des Sonnensystems einfliesst, um dort gespeichert zu werden. Seine Museen sind Archive der Vergangenheit, die jederzeit auf der Leinwand wiederbelebt werden kann, seine Medien Instrumente der informationstechnologischen Kolonialisierung des Weltalls.

Vielleicht ist der einfachste Weg, um unsere (terrestrische Vergangenheit) zu rekonstruieren, den Blick auf die fremden Planeten zu richten, Himmelsstätten, die auf dem Wege der medialen Technologisierung zu einem schon von Plotin und Marsilio Ficino postulierten Zentralarchiv des galaktischen Wissens avancierten.

Bildnachweis: Zeichnung von H. Lanos für die französische Zeitschrift »Je sais tout« vom 15. November 1906, S. 405.


Mateusz Cwik